aus der Berliner Behindertenzeitung http://www.archiv.berliner-behindertenzeitung.de/wir-waren-vorbereitet/

Wir waren vorbereitet

von: Dominik Peter

 

Demo / 05.05.2015 Europa?ischen Protesttags
Dr. Ilja Seifert, Bundesvorsitzender des Allgemeinen Behindertenverbandes in Deutschland (Kurzform ABiD).

Zu Ostern 1990 fanden sich im Berliner Freizeit und Erholungszentrum (FEZ), das noch wenige Wochen vorher Pionierpalast hieß, rund 250 Delegierte aus fast allen Kreisen des Landes zusammen, um den Behindertenverband der DDR zu gründen. Nicht nur hinter mir lag damals die ereignisreichste, spannendste und überraschungsdichteste Zeit meines Lebens. Innerhalb weniger Monate hatten Menschen mit den unterschiedlichsten Beeinträchtigungen sich nicht nur Gehör – ja: Respekt – verschafft, sondern brachten sogar die Kraft auf, in der untergehenden DDR eine eigene Organisation ins Leben zu rufen. Umso erstaunlicher – in meinen Augen auch erfreulicher – ist es, daß es diesen Verband der angeblich „Schwächsten der Gesellschaft“ noch immer gibt. Ja, wir begehen inzwischen seinen 20. Geburtstag!

 

Auch wir sind Teil des Volkes!

 

Als im Herbst 1989 zehntausende DDR-Bürgerinnen und –Bürger auf die Straße gingen und mit dem Ruf „Wir sind das Volk!“ den sich real-existierenden Sozialismus nennenden bürokratisch-zentralistisch gelenkten Staat innerhalb weniger Wochen – friedlich! – zum Zerbröseln brachten, rollten und humpelten auch Menschen mit Behinderungen mit den Demonstranten: Auch wir sind Teil des Volkes! Auch wir gehören dazu!
Und tatsächlich nahm man uns ernst. Plötzlich waren wir wichtig. Zumindest zeitweilig. Nicht nur für uns selbst. Nein, auch die Öffentlichkeit interessierte sich für uns. Das mag durchaus auch mit schlechtem Gewissen zusammenhängen. Immerhin tauchten schon bald Berichte in der Presse auf – meist von westdeutschen Journalisten recherchiert –, in denen buchstäblich haarsträubende Bedingungen geschildert wurden, unter denen Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen in Heimen leben mußten. Auch drangen mehrere Hilferufe junger (körper)behinderter Frauen und Männer an die Öffentlichkeit, die in Altersheimen mehr dahinvegetierten als lebten. Von Mehrbettzimmern und Schlafsälen war die Rede. Von heruntergekommenen Gebäuden und z.T. katastrophalen sanitären Verhältnissen. Sehr alte Menschen teilten sich kleine Zimmer mit behinderten. Auf die natürlichen Interessen – oder gar Wünsche – letzterer einzugehen, war kaum möglich.
Aber die öffentliche Aufmerksamkeit fußte auch auf unseren eigenen Aktivitäten. In Zeiten, da alles Hergebrachte auf dem Prüfstand steht, fanden auch die Vorschläge von Menschen, die allgemein als „schwach“ angesehen werden (und es strukturell wohl auch sind), Beachtung. Zumal wir ja tatsächlich aufzeigen konnten, daß Verbesserungen, die für uns unbedingt erforderlich waren, allen anderen durchaus auch zugute kämen. Unsere Forderungen waren alles andere als (gruppen)egoistisch. Sie waren plausibel und wurden auch so verstanden.
In jenen Monaten mußten praktisch jeden Tag neue Herausforderungen bewältigt werden, von deren Existenz wir vorher kaum eine Ahnung hatten. Geschweige denn, daß irgendjemand von uns fertige Lösungen präsentieren konnte. Seinerzeit dachte kaum jemand daran, unser Tun für die Nachwelt zu dokumentieren oder gar systematisch aufzubereiten. Viele der Beiträge in diesem Büchlein zum 20. ABiD-Geburtstag sind auf bloße Erinnerungen ihrer Autorinnen und Autoren angewiesen. So auch der meine. Ich erhoffe mir davon viele unterschiedliche Sichten auf die selben oder nahe beieinanderliegende Ereignisse. Jede individuell gefärbt. Jede subjektiv ehrlich. Und doch nur fragmentarisch. Insgesamt gesehen können sie aber wie Mosaiksteinchen geeignet sein, beim Lesen zu einem Gesamtbild zusammengefügt zu werden.
Ich bin mir der Unzulänglichkeit eigener Erinnerung schon seit meiner Dissertation bewußt. Damals führte ich viele Interviews mit hochinteressanten Protagonisten von Ereignissen, die seinerzeit ein gutes halbes Jahrhundert zurücklagen. Deshalb unterstelle ich auch bei mir selbst, vieles nicht mehr richtig zu erinnern. Deshalb versuche ich, die wenigen Dokumente zu nutzen, die es aus dieser Zeit gibt. In erster Linie ist das DIE STÜTZE, eine Zeitschrift, die nur vier Jahre lang erschien, meines Erachtens aber eine eigene wissenschaftliche Untersuchung wert wäre.

 

Parteien ermöglichten uns, DIE STÜTZE herauszugeben

 

Allein die Angaben im Impressum, wer uns die ersten fünf Ausgaben ermöglichte, sind aufschlußreich. Und sie belegen, daß man uns seinerzeit in der Politik sehr ernst nahm. Inzwischen sind die Seiten des im Oktav-Formats (DIN A5) gedruckten Blattes brüchig. In der DDR waren Druckkapazitäten knapp. Benutzt wurde billigstes Zeitungspapier.
Die erste Ausgabe erschien am 12. Januar 1990, einen Tag vor der Gründung des Berliner Behindertenverbandes (BBV). Ihr Umfang betrug 12 Seiten. Ermöglicht – so der Vermerk im Impressum – von der Liberaldemokratischen Partei Deutschlands (LDPD), einer der beiden DDR-Parteien, die zunächst zum Bund Freier Demokraten fusionierten und ein halbes Jahr später in der FDP aufgingen. DIE STÜTZE Nr. 2 erschien am 7. Februar 1990. Sie hatte 24 Seiten, darunter erstmalig einen großen Leserbrief-Teil. Hier vermerkt das Heftchen: „Wir danken dem CDU-Bezirksvorstand Berlin, der uns kurzfristig und großzügig seine Druckereikapazitäten sowie die nötigen Mittel zur Verfügung stellte, damit wir DIE STÜTZE 2/90 in eigener Verantwortung rasch herausgeben konnten.“ Die dritte STÜTZE trägt das Erscheinungsdatum 26. Februar 1990. Sie umfaßt 32 Seiten. Bezahlt wurde sie von der Berliner PDS. Knapp einen Monat später, am 20. März 1990, erschien die 24 Seiten starke vierte Ausgabe, für die wir Geld von der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands (DBD), die später in der gesamtdeutschen CDU aufging, erhielten. Unmittelbar vor dem Gründungskongreß des DDR-Behindertenverbands, am 10. April 1990, erblickte die fünfte STÜTZE das Licht der Welt. Sie hatte 32 Seiten, wobei die letzten fast leer blieben. Wir sagten damals, daß das so sei, damit sich die Delegierten Notizen machen könnten. Als Finanzier wird der Bund Freier Demokraten genannt. Besondere Anerkennung für das Einwerben dieser finanziellen und materiellen Unterstützung für die Herausgabe der ersten STÜTZEN gebührt Ralph Loell, der seinerzeit die Gespräche führte. Er war dann noch einige Jahre im BBV-Vorstand aktiv, zeitweilig sogar als stellvertretender Vorsitzender. Ende der 90er Jahre verstarb er. Ab Nr. 6/90 erschien DIE STÜTZE regelmäßig alle 14 Tage im Verlag Gesundheit i.G.

 

Als ABiD in Gesamtdeutschland aktiv

 

Inhaltlich avancierte DIE STÜTZE zu einem der wichtigsten Werkzeuge, mit denen wir den Verband bauten. Formal fungierte zunächst der BBV als Herausgeber. So verwundert es nicht, daß ein Großteil ihrer Beiträge sich hauptstädtischen Themen widmet. Das wurde bald darauf als „zu berlinlastig“ kritisiert. Von Anfang an aber war der Blick auf den DDRweiten Verband gerichtet. Sowohl die Berichte und konzeptionellen Überlegungen der einzelnen Arbeitsgruppen des BBV als auch Informationen über das erste DDRweite Vorbereitungstreffen in Rostock und Warnemünde als auch des dort ins Leben gerufenen vorbereitenden Präsidiums wurden als Anregungen für eigene Aktivitäten in zahlreichen Städten und Kreisen verstanden. Nicht zuletzt kommt das in der umfangreichen Leserbrief-Rubrik zum Ausdruck. Außerdem veröffentlichte jede neue STÜTZE-Ausgabe weitere Kontaktadressen, über die sich Betroffene, die sich ebenfalls zusammenschließen wollten, finden konnten. Aus heutiger Sicht verwundert die Unbefangenheit, mit der seinerzeit sensible Daten – darunter Privatadressen und –Telefonnummern – für den guten Zweck preisgegeben wurden. Später – nach der Gründung des Behindertenverbandes der DDR – zeigte sich allerdings, daß auch die etablierten westdeutschen Großverbände diese Listen fleißig nutzten, um unsere jungen Orts- und Kreisverbände abzuwerben. Das begann etwa im Mai, erlebte aber ab August 1990, nachdem die Volkskammer den Beitritt beschlossen hatte, einen enormen Aufschwung. Das schwächte unsern jungen Verband. Trotzdem beschloß der Vorstand Ende August, die Eigenständigkeit zu bewahren. Wir erweiterten die Satzung und gaben uns den programmatischen Namen Allgemeiner Behindertenverband in Deutschland „Für Selbstbestimmung und Würde“ e.V. (ABiD).

ADN/Elke Schöps/13.8.90/Berlin: Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Präsidentin der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik und amtierendes Staatsoberhaupt.
Sabine Bergmann-Pohl, 1990 (Foto: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0813-302 / Schöps, Elke / CC-BY-SA).

 

Staatsoberhaupt als Schirmherrin

 

Der Gründungskongreß begann mit einem kleinen Paukenschlag: Als allererstes hatte ich die Ehre, einen handbeschriebenen Zettel, der aus einem Notizblock gerissen war, vorzulesen. Darauf stand ein einziger Satz: „Ich übernehme die Schirmherrschaft über den Behindertenverband.“ Das war immerhin schon v o r seiner offiziellen Gründung geschrieben. Ge- und unterschrieben hatte diesen Satz Dr. Sabine Bergmann-Pohl, die Präsidentin der freigewählten Volkskammer. Da es zu diesem Zeitpunkt in der DDR keinen Staatsrat und also auch keinen Staatsratsvorsitzenden mehr gab, war sie, die Parlamentspräsidentin, praktisch das Staatsoberhaupt. Dem Verlesen dieses Satzes folgte großer Beifall. Welcher Selbsthilfeverband behinderter Menschen kann sich schon rühmen, das Staatsoberhaupt zum Schirmherrn zu haben? Und sie ist es noch heute. Darauf ist der ABiD nach wie vor stolz.
Wie es dazu kam? Nun, die freien Wahlen am 18. März 1990 brachten auch drei Rollstuhlfahrer in die Volkskammer: Gerd Hartmann mit dem Mandat der SPD sowie Jürgen Demloff und mich mit dem Mandat der PDS. Da die DDR zu dieser Zeit von einer großen Koalition von CDU/DSU/DA und SPD regiert wurde, hatten wir also sowohl auf Seiten der Koalition als auch der Opposition Sitz und Stimme. Wir waren auf dem Weg zur Selbstvertretung – einer der wichtigsten Forderungen im Selbstverständnis des sich gründenden Behindertenverbandes – einen beachtlichen Schritt voran gekommen.
Nach der Wahl von Sabine Bergmann-Pohl zur Volkskammerpräsidentin wurde rasch bekannt, daß sie eine behinderte Tochter hat. Das ließ im vorbereitenden Präsidium die Hoffnung aufkeimen, daß wir sie für den Verband interessieren, womöglich gewinnen könnten. Also beauftragte mich das Vorbereitungsgremium, sie diesbezüglich anzusprechen. In der Volkskammer, die zu diesem Zeitpunkt noch im Palast der Republik tagte, waren sich die Abgeordneten nicht nur räumlich näher als im jetzigen großen Reichstagsplenarsaal, sondern es gab auch – über noch so scharfe Parteigrenzen hinweg – wesentlich größere persönlich Nähe. So war es nicht sehr schwierig, sie am Ende einer Sitzungsunterbrechung auf ihrem Weg zum Präsidentenplatz anzusprechen und ganz direkt zu fragen, ob sie bereit wäre, die Schirmherrschaft zu übernehmen. Sie war überrascht und bat sich ein wenig Bedenkzeit aus. Und ich erinnere mich, daß Gregor Gysi, der unmittelbar daneben stand und das kurze Gespräch mithörte, ihr in der ihm eigenen Art schmunzelnd nachrief: „Ich, Frau Präsidentin, würde an Ihrer Stelle dieses Angebot annehmen.“ Ob es diese Fürsprache oder anderweitige Überlegungen waren, die den Ausschlag gaben, weiß ich nicht. Jedenfalls legte sie mir zu Beginn der nächsten Sitzungsunterbrechung jenen Zettel hin, mit dem ich den Gründungskongreß so furios eröffnen konnte.


Wenn ich mich recht erinnere, fand sogar die erst wenige Tage vorher ins Amt eingeführte Arbeits- und Sozialministerin der DDR zu uns: Regine Hildebrandt. Sie wurde mit großem Applaus begrüßt. Ich hatte sie kurz vorher – bei einem der „Donnerstag-Gespräche“ im Fernsehfunk – kennengelernt. Das war just an dem Tage, als die Ernennung der sozialdemokratischen Politikerin zur Ministerin bekannt wurde. Folgerichtig dominierte sie sofort die gesamte Sendung. Ihr großes Herz machte sie später lange Zeit zur beliebtesten ostdeutschen Politikerin. Ihre Verbundenheit mit dem jungen Behindertenverband äußerte sie u.a. dadurch, daß sie für Heft 12 der STÜTZE, das am 12. Juli 1990 herauskam, das Editorial schrieb. Später, im September desselben Jahres erhielt der ABiD von ihrem Ministerium noch einmal eine größere Summe an institutioneller Förderung.

 

Ein mehr oder weniger geordnetes Chaos

 

Ansonsten verliefen die Tage im FEZ eher in einem mehr oder weniger geordneten Chaos. Heftig wurde über Strukturfragen gestritten. Ein Geschäftsordnungsantrag löste den anderen ab. Angenommen wurde schließlich eine vorläufige Satzung. Der Bericht von Dr. Gabriele Hallof unter dem Titel „Eine schwierige Geburt“ in der STÜTZE 6/90, die am 15. Mai erschien, endet mit den Sätzen: „Es war dringend notwendig, daß in der DDR ein Behindertenverband gegründet wurde. Doch hätte dieser Kongreß bei mehr Selbstdisziplin ergebnisreicher sein können und müssen. Wünschenswerter wäre eine konzentriertere Diskussion über Programm und Sachfragen gewesen.“ Glücklicherweise einte ein Wille alle Delegierten: Wir wollen diesen Verband! So schafften wir es, einen Präsidenten und drei Vizepräsidenten, den Vorstand und eine Revisionskommission zu wählen. Das vorbereitende Präsidium legte Rechenschaft über seine Arbeit seit Februar ab. Ein Finanzbericht wurde entgegengenommen und eine Finanzordnung diskutiert. Auch einige Gäste kamen zu Wort.
Mit den Gästen unterlief mir allerdings ein durchaus folgenreicher Fehler. Ich achtete so gut wie nicht aufs Protokoll. Mir war wichtig, daß möglichst viele Delegierte zu Wort kommen. Wir hatten uns untereinander so unendlich viel zu sagen. Wir mußten uns ja überhaupt erst einmal kennenlernen. Aber eigentlich hätte ich auch den hohen Gästen viel Aufmerksamkeit widmen müssen. Da ich unter vier Bewerbern gleich im ersten Wahlgang mit 152 von 221 gültigen Stimmen zum Präsidenten gewählt wurde, erwarteten unsere Gäste natürlich, daß ich ihnen persönlich zum Gespräch zur Verfügung stünde. Noch mehr erwarteten sie, daß ihnen das Wort erteilt würde. Allein aus der damaligen BRD waren die Spitzen des VdK, des Reichsbundes und der Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte (BAGH) anwesend. Aus West-Berlin der „Spontanzusammenschluß Mobilität für Behinderte“. Nicht zuletzt etliche behinderungsspezifische DDR-Organisationen – z.B. Deutsche Multible Sklerose Gesellschaft (DMSG), Lebenshilfe, Bund der Diabetiker, Versehrtensportverband, Gehörlosen- und Schwerhörigenverband (GSV), Blinden- und Sehschwachenverband (BSV) usw. –, die sich spiegelbildlich zu westdeutschen gründeten, um sich bald darauf mit ihnen zu vereinigen. Sogar aus der Tschechoslowakischen Föderativen Republik waren Vertreter des Invalidenverbandes anwesend. Desgleichen Vertreter DES Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) und der Bund Freier Demokraten.

 

Vernachlässigtes Protokoll

 

Mir war damals aber – ich erwähnte es bereits – die Debatte mit den Delegierten und unter ihnen wesentlich wichtiger. So fühlten sich einige der Gäste – vermutlich nicht zu unrecht – vernachlässigt. Sie kamen nicht oder zu spät zu Wort. Dafür war zwar die Tagungsleitung zuständig, aber trotzdem fiel die Verantwortung auch mir zu. Ich fand nur zwischen Tür und Angel mal zwei, drei Minuten, um Visitenkärtchen auszutauschen und ein paar Worte zu reden. Einige der Honoratioren fühlten sich beleidigt. Andere begannen, mit kleinen Geschenkchen um die frischgewählten Vorstandsmitglieder und auch um besonders aktive Delegierte zu werben. Die Folge davon war, daß in den nächsten Monaten – bei manchen dauerte es Jahre – unser Dach-Verband als quasi nicht-existent angesehen wurde. Man begann systematisch, unsere Mitgliedsverbände auf Kreisebene abzuwerben. Ich selbst avancierte für einige zur Unperson. Das erschwerte die Arbeit des ABiD beträchtlich. Diesen Fehler auszugleichen, dauerte Jahre. Schließlich gelang das meinem Nachfolger, Dr. Detlef Eckert, in der zweiten Hälfte der 90er Jahre.

Damals begannen die mühevollen Debatten, die 1999 zur Gründung des Deutschen Behindertenrates (DBR) führten. Besondere Unterstützung dabei erhielten wir von Annerose Hintzke, die seinerzeit Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Clubs Behinderter und ihrer Freunde (BAG cbf) war. Auch Ottmar Miles-Paul, der für die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben (ISL) an den Verhandlungen zur DBR-Gründung beteiligt war, half intensiv, Ressentiments mir gegenüber auszuräumen. Gemeinsam mit dem „Weibernetz“ bilden seitdem der ABiD und ISL die „dritte“ (unabhängige bzw. emanzipatorische) Säule des DBR. Die BAG cbf, die ursprünglich auch dazugehörte, verlor ihren Mitgliedsstatus im DBR inzwischen aufgrund interner Widersprüche. Als mich die dritte Säule des damals noch gar nicht offiziell gegründeten DBR zu ihrem Kandidaten für einen der drei Vertreter Deutschlands im Europäischen Behindertenforum (EDF) kürte und der „Rest“ der Vorbereitungsgruppe (Säule 1 und 2) das akzeptierte, war der Bann gebrochen. Einer derjenigen, die damals mutig über den eigenen Schatten sprangen, war der seinerzeitige VdK-Bundesgeschäftsführer Ulrich Laschet, der inzwischen leider verstarb. In den letzten Jahren seines Wirkens verband uns eine sehr produktive Arbeitsatmosphäre.

 

Ostern brauchte auch einen Gottesdienst

 

Wenige Tage vor der Eröffnung der Tagung bemerkte das vorbereitende Präsidium, daß sie auf Ostern fiel. Also mußte noch ein ökumenischer Gottesdienst organisiert werden. Er fand dann am Karfreitag Abend, also vor der offiziellen Eröffnung, statt. Daß wir diese Klippe umschifften, haben wir nicht zuletzt Stephan Labotzki zu verdanken, der seinerzeit bei einer der Kirchen angestellt war.
Die Debatten um unsere Satzung verliefen unter anderem deshalb etwas unstrukturiert, weil wir ja im Herbst 1989 durchaus nicht bei Null begannen. Schon in den 70er und 80er Jahren gab es immer wieder mal Versuche, einen DDR-Behindertenverband ins Leben zu rufen. Vorbilder waren meist der Blinden- und Sehbehindertenverband der DDR (BSV) und sein Partner für Gehörlose und Schwerhörige (GSV). Beide waren in den 50ern gegründet worden und hatten durchaus beachtliche internationale Reputation. Besonders traf das auf Helmut Pilasch zu, den BSV-Präsidenten. Er war viele Jahre lang auch Präsident der Welt-Blindenunion. Leider verstarb er Ende der 80er Jahre. Sie verstanden sich auch innerhalb der DDR ein bißchen als Interessenvertreter aller Menschen mit Behinderungen.

 

Medien nahmen uns ernst

 

Aus heutiger Sicht besonders bemerkenswert war die große Aufmerksamkeit, die viele Medien unseren Aktivitäten schenkten. Man sprach nicht nur über uns, sonder mit uns. Ließ uns meist sogar selbst zu Wort kommen. Die Berichte über den Gründungskongreß sind m.W. nicht systematisch dokumentiert. Aber es gab etliche. Das war auch im Vorhinein so. Eine merkwürdig herausragende Rolle spielte dabei ein Interview, das die WOCHENPOST um die Jahreswende 1989/90 mit mir geführt hatte. Das war die in der DDR am weitesten verbreitete und meistgelesene Wochenzeitung. Ich hatte mit ihr bis dahin nur insofern zu tun, als ich in ihr seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre von Zeit zu Zeit Buch-Rezensionen veröffentlichte. Auch war nach der gemeinsamen Beendigung unseres Germanistik-Studiums ein ganzseitiger Artikel über meinen Vater erschienen. Mit heutigen Begriffen war er mein Studien-Assistent. Damals regelte der Staat das so, daß er – zunächst als Gasthörer, später als direkt immatrikulierter Student – einfach mitstudierte. So waren wir das erste Vater-Sohn-Paar, das an der Humboldt-Universität gleichzeitig diplomierte. Das war der WOCHENPOPST eine Seite wert.

In der Wendezeit spielte all das keine Rolle. Aber Claudia von Zglinicki interviewte mich und veröffentlichte das am 4. Januar 1990 in der Nr. 1/90 der WOCHENPOST. Einige der Zeituntungsartikel von mir bzw. über mich gab der Dieter Ohrberger, Langenweid a.L. & Kolog-Verlag, Berlin im September 1990 unter dem Titel „Schonzeit gab es nicht“ als Sammlung heraus. Ein kleiner Teil der Einnahmen sollte dem ABiD zugute kommen. Heute ist dieses Büchlein ein Erinnerungsstück, das ein wenig von der Aufbruchstimmung jener Zeit bewahrt. Ein weiteres mit dem Titel „Alle Könige sind gleich“, das eine hochinteressante Auswahl von Leserbriefen dokumentiert, die in der STÜTZE veröffentlicht wurden, ließ der ABiD 1991 folgen.

Auch andere Protagonisten äußerten sich öffentlichkeitswirksam in Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen. Darüber habe ich aber keine Belege, deshalb kann ich sie hier nicht detailliert erwähnen. Ich selbst war sogar zweimal Gast bei den „Donnerstag-Gesprächen“ im Deutschen Fernsehfunk, der seinerzeit wichtigsten Talk-Show im DDR-Fernsehen. Außerdem hatte ich mehrfach die Ehre in Rundfunkstudios eingeladen zu werden und dort live über unsere Forderungen., Träume und organisatorische Arbeit zu informieren. Mit der Währungsunion (1. Juli 1990) nahm diese Medienaufmerksamkeit spürbar ab.

 

Wir waren vorbereitet

 

Alle Satzungsentwürfe, die sich an Ex-DDR-Realitäten orientierten, gingen ganz selbstverständlich davon aus, daß uns „der Staat“ die materiellen und finanziellen Voraussetzungen schaffen müsse. Immerhin belegten BSV und GSV in einem in der 80ern extra für sie gebauten Bürogebäude am Schiffbauerdamm in Berlin-Mitte mehrere Etagen, gaben eigene Zeitungen heraus, verwalteten ein beachtliches Archiv, vertrieben Hilfsmittel und hatten ein hauptamtliches Präsidium sowie etliche weitere, bezahlte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das war nun 1990 ganz und gar nicht mehr zu erwarten. In so manchen Köpfen spukten aber noch immer Reste derartiger Illusionen. Andere konnten auf mehrjährige Arbeit in Behindertenklubs auf lokaler Ebene verweisen. Aber auch deren Erfahrungen – so wichtig sie für die Findung waren – konnten in der neuen Situation nur sehr bedingt übernommen werden. Immerhin spielte jedoch einer davon – der Rostocker Club 81 – für die Gründung des DDR-Behindertenverbandes eine herausragende Rolle. Dieser FDJ-Jugendclub, in dem sich seit dem UN-Jahr der Menschen mit Behinderungen (1981) junge behinderte und nichtbehinderte Leute trafen, um miteinander zu tanzen, sich kulturell zu betätigen usw., gab dem ersten Koordinierungstreffen zur Einberufung des Gründungskongresses vom 9. – 11. Februar ein Domizil. Besondere Verdienste erwarb sich dabei Ralph Grabow, der Jugendclubleiter. Er wurde auf dem Gründungskongreß, an dessen organisatorischer Vorbereitung er maßgeblich beteiligt war, folgerichtig zum Vizepräsidenten gewählt.
Und es gab noch eine weitere Quelle an Erfahrungen, aus der sich die Kraft speiste, mit der wir unsern Verband in dieser aufregenden, aber kurzen Zeit gründeten: Das waren zahlreiche kleine Arbeitsgruppen, die sich vielerorts schon seit Jahren getroffen hatten, um dieses oder jenes Projekt zu schaffen. Diese Arbeitsgruppen bestanden immer nur zeitweilig. Es gelang ihnen beispielsweise, Anfang der 80er einen Behindertenführer für (Ost)Berlin herauszugeben. Dazu gehörte sogar eine touristische Karte, in der viele berollbare Orte (Restaurants, Theater usw.) per Symbol kenntlich gemacht worden waren. Einige Zeit später schaffte es eine etwas anders zusammengesetzte kleine Gruppe, in (Ost)Berlin soetwas wie ein Gegenstück zum (West)Berliner TELEBUS zu etablieren. Es handelte sich um zwei Barkas-Autos, die mit Rampen versehen waren und beim Rettungsamt für Privatfahrten abgerufen werden konnte. All diese zeitweiligen Projektgruppen machten sich natürlich stets auch Gedanken darüber, wie derartige Initiativen institutionalisiert werden könnten. Inzwischen ist hinreichend bekannt, daß das unter den obwaltenden Bedingungen, in denen die Staatsmacht hinter jeder Organisationsform „umstürzlerische oppositionelle Umtriebe“ argwöhnte, nicht möglich war. Aber all das führte dazu, daß wir im Herbst 1989 nicht völlig unvorbereitet waren. Man kannte sich. Und Jede/r kannte wieder irgendwoanders jemanden. Wir hatten organisatorische und inhaltliche Erfahrungen. Und wir hatten sehr hochfliegende Pläne.
All das galt es, an diesen Ostertagen unter einen Hut und mit den realen politischen Verhältnissen in Übereinstimmung zu bringen. Daß uns dies – trotz aller Widrigkeiten – gelang, erscheint aus heutiger Sicht fast märchenhaft. Damals zweifelten wir nicht eine Sekunde lang an unserer Stärke. Sie schien unermeßlich.

Eine zeitlang waren wir eben wichtig . . .
Oder sind wir es noch?
Wir sind es. Und wir werden es sein!

 

(Erstveröffentlichung als Beitrag in der Festschrift „ . . . plötzlich waren wir wichtig!“ des Allgemeinen Behindertenverbandes in Deutschland „Für Selbstbestimmung und Würde“ e.V. (ABiD) zu dessen 20. Jahrestag, Berlin, April 2010, S. 56 – 65)